Festvortrag

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Festvortrag von Prof. Dr. Klaus Schleicher, Hamburg

PÄDAGOGIK VON GESTERN FÜR
DIE KINDER VON HEUTE, DIE BÜRGER VON MORGEN

Zusammenfassender Bericht
Zur Feier seines 25jährigen Bestehens
hatte der Elternverein NRW nicht den Rückblick in den Mittelpunkt der Festveranstaltung gestellt, sondern ein in die Zukunft weisendes Thema gewählt. Mit Prof. Dr. Klaus Schleicher referierte ein namhafter Sachverständiger für vergleichende Erziehungswissenschaft, dem die Praxis nicht fremd ist. Er fand über Tischlerlehre und Abendgymnasium zum Studium und arbeitete als Lehrer, ehe er zur Universität wechselte.

 

Nach einem rahmenartigen Vorausblick folgte Prof. Schleicher mit seinen Ausführungen am 23.10.1999 in Düsseldorf dem Dreischritt des Themas: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.

 

Zur Pädagogik von gestern meinte der Referent, daß die früheren Bildungsreformen weder zu sozialer Gerechtigkeit noch zu mündigen Staatsbürgern geführt hätten, denn sie wurden “von unvereinbaren Zielen - einmal Gleichheitsthesen und zum anderen Individualisierungstendenzen - beherrscht“. Die deutsche Gleichheitsideologie nehme die Ungleichartigkeit der Menschen ebenso wenig zur Kenntnis wie die ungleiche Wertigkeit verschiedener Bildungsinhalte. “Wer glaubt ernsthaft, daß man z.B. ohne fremdsprachliche oder naturwissenschaftliche Kenntnisse gleiche Lebens- und Berufschancen hat?“ Nur wer die Bildungsinhalte weithin als gleichwertig ansehe, könne eine Individualisierung von Bildungsangeboten für gut halten, die Beliebigkeit zur Folge habe. Heute gebe es kaum noch Bildungsprinzipien von anerkannter Allgemeingültigkeit. Schleicher: “... da plappert man über Multikulturelles, ohne zu wissen, was Kultur ist. All diese deutschen Bildungsdefizite und die Selbstdemontage der hiesigen Bildungspolitik hat Altbundespräsident Herzog immer wieder gegeißelt“.

 

Zur Pädagogik für die Kinder von heute warf der Erziehungswissenschaftler einen Blick auf das heutige Umfeld der Kinder. Er wies auf den Gemeinsamen Markt mit verschärftem Wettbewerb und steigenden Anforderungen hin sowie auf die medialen Verbundsysteme, mit Handys schon in der Hand von Grundschulkindern und Internetangeboten in vielen Schulen. Diese Großwetterlage erfordere zukunftsfähige Orientierungen. Die Lehrpläne aber gingen im wesentlichen auf Festlegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, sie seien inzwischen meist überfrachtet und entbehrten einer kritischen Sichtung und einer bildungspolitischen Neuordnung. Dabei sähen die Jugendlichen nach der Emnid-Befragung 1996 und der Shell-Studie von 1997 Arbeit und Umwelt als wichtigste Zukunftsthemen an, nicht aber die Bildung. Sie erwarteten zukunftssichere Arbeitsplätze vorrangig von der Umwelttechnologie und befürworteten Technologien, die Solarenergie oder Computer betreffen. Überraschenderweise sei von den befragten Jugendlichen Pflichtbewußtsein für sehr lebensbedeutsam gehalten worden, obwohl es kaum von ihnen gefordert werde.

 

Pädagogik für die Bürger von morgen - tragen die Bildungsveränderungen von heute den Jugendlichen und dem Bedarf von morgen Rechnung? Prof. Schleicher führte dazu aus, daß die Schule früher “die soziale und emotionale Entwicklung der Lernenden nicht hinreichend (berücksichtigte), daß sie weithin auf ein systematisches Wissen fixiert war, das wenig handlungsrelevant war. Doch berücksichtigt sie heute noch das unverzichtbare Wissen und führt sie zu einer Denk- und Entscheidungsfähigkeit, ohne die das Leben kaum zu bewältigen ist?“.

 

Der Referent bejahte die von Lernenden, Lehrern und Eltern erhobene Forderung nach mehr Handlungsrelevanz. Er warnte aber davor, darunter nur “konkret-praktisches, momentanes Tun“ zu verstehen, da die berufliche Nachfrage zunehmend mehr Abstraktionsfähigkeit und Transferkompetenzen verlange. Handlungsrelevanz müsse die Unterrichtsinhalte mit dem verschränken, was nach der Schulzeit für die Lebens- und Berufsbewältigung wichtig sei. Auch Projektunterricht und offenen Unterricht bewertete Prof. Schleicher nur unter der Voraussetzung positiv, daß “ein solides Basiswissen, das fachlich abgestimmt und zielbezogen ist“, vorhanden sei. Mit Öffnung von Schule dürfe man nicht eine kostengünstigere Schule anstreben, sondern eine Entwicklung zu einer lebensbezogeneren Bildung mit mehr Entscheidungskompetenz für Schulleitung, Schulverwaltungsräte und Elterngremien. “Angesichts der neuen Anforderungen in der Wissensgesellschaft gilt es künftig, die sozialen Herausforderungen, schulischen Kompetenzen und familiären Verantwortlichkeiten so aufeinander zu beziehen, daß der zeitliche Nachlauf der Bildungspolitik und die erzieherischen Widersprüche zwischen Elternhaus und Schule verringert werden“.

 

An dieser Stelle wandte sich der Festredner an die anwesenden Elternvertreter und rief sie zur Mitarbeit am Profil der Schule auf. Er meinte, man müsse Qualitätskriterien für die Pädagogik entwickeln, mehr Leistungskontrollen vorsehen und Schul- und Lernqualität vergleichenden Untersuchungen unterziehen. Europa brauche Menschen mit “intelligentem Wissen“, d.h. “eine wohlorganisierte, flexibel nutzbare und reflexiv zugängliche Kenntnis der Sachverhalte, Begriffe, Regeln und Prinzipien eines Gegenstandsbereiches“.
Bildungspolitisch hielt Prof. Schleicher für wahrscheinlich, daß “eine Schule mit verringerten Anforderungen, beliebigen Unterrichtsinhalten und Bildungsnaschereien weder ihrer gesellschaftlichen noch ihrer humanen Verantwortung gerecht wird, und daß eine bürokratische Bildungssteuerung die ‘Bürger von morgen‘ nicht hinreichend qualifiziert“. Für berechtigt erklärte er die Forderung nach einer verstärkten Betonung von Lesen, Schreiben, Rechnen. Daneben sei auf die Bedeutung von Computer-, Wirtschafts- und Englischfähigkeiten hinzuweisen. Darüber hinaus gehörten zur Kultur wie zur humanen Entwicklung aber auch künstlerisch-ästhetische und religiös-ethische Bereiche; denn sonst fänden in unserer Konsumwelt die großen Naturharmonien keine Aufmerksamkeit mehr und würde Mitverantwortung für den Ausgleich zwischen Wissen und Ethik ausgeblendet bzw. keine Mitverantwortung im Schulalltag mehr realisiert.

 

Abschließend meinte der Redner, die staatliche Bildungspolitik solle sich auf Finanz-, strukturell-organisatorische und Evaluationsfragen konzentrieren.

 

Soweit der Bericht über den Festvortrag. Der Rahmen einer Jubiläumsfeier läßt keinen Raum für Diskussionen. Wir freuen uns über nachträgliche, schriftliche Diskussionsbeiträge!

Dr. Gisela Friesecke

 

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Stand: 16.02.2012